Wenn Sie eine Immobilie in Berlin, München oder Hamburg bewerten lassen, ist der Preis nicht mehr nur eine Frage von Quadratmetern und Badezimmern. In angespannten Märkten ist der Wert oft ein Rätsel. Ein Haus, das vor drei Jahren 500.000 Euro wert war, kann heute 700.000 Euro kosten - und morgen wieder 620.000. Warum? Weil die klassischen Bewertungsmethoden versagen. Die Zahlen lügen nicht: In den sieben größten deutschen Städten stiegen die Preise zwischen 2015 und 2022 von durchschnittlich 4,2 Prozent pro Jahr auf über 12 Prozent. Das Immobilienwertverfahren kann das nicht mehr abbilden.
Was macht einen Markt wirklich angespannt?
Nicht jede Stadt mit steigenden Preisen ist automatisch ein angespannter Markt. Die offizielle Definition ist klar: Ein Markt gilt als angespannt, wenn drei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind. Erstens: Der Wohnungsbedarf ist um mindestens 10 Prozent höher als das Angebot. Zweitens: Die Leerstandsquote liegt unter 1,5 Prozent. Drittens: Die Mieten stiegen in drei Jahren um mindestens 10 Prozent. Das ist kein Zufall - das ist System. Seit 2015 gilt diese Regel in Deutschland, und seit 2023 sind 47 Kommunen davon betroffen, statt wie 2015 nur 12. In Berlin, Frankfurt und Köln ist das längst Alltag. In Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern hingegen bleibt der Markt weitgehend stabil.
Warum ist das wichtig? Weil nur in diesen Märkten die Mietpreisbremse greift. Und genau das verändert alles. Wenn Sie eine Wohnung vermieten, dürfen Sie nicht einfach den Marktpreis nehmen - der Gesetzgeber legt eine Obergrenze fest. Das hat direkte Auswirkungen auf den Verkaufswert. Ein Haus, das vor zehn Jahren aufgrund seiner Mieteinnahmen als sehr wertvoll galt, ist heute weniger attraktiv. Der Mieter zahlt weniger, weil er darf. Und das senkt den Wert.
Warum die drei Standardverfahren versagen
In Deutschland gibt es drei offizielle Methoden, um Immobilien zu bewerten: das Vergleichswertverfahren, das Ertragswertverfahren und das Sachwertverfahren. In ruhigen Märkten funktionieren sie gut. In angespannten nicht.
Das Vergleichswertverfahren sucht nach ähnlichen Verkäufen in der Nähe. Aber was, wenn es kaum Verkäufe gibt? In Berlin fehlen bis zu 35 Prozent der benötigten Vergleichsobjekte. Die Gutachter müssen dann auf alte Daten zurückgreifen - Verkäufe aus 8, 12, sogar 18 Monaten zurück. Das ist wie ein Wetterbericht aus dem letzten Winter, wenn es heute 30 Grad hat. In Friedrichshain musste ein Gutachter 2023 einen Preis um 22 Prozent nach oben korrigieren, weil alle Vergleichsobjekte mehr als sechs Monate alt waren. Der Markt hatte sich in der Zeit um 0,8 Prozent pro Monat verteuert. Das ist kein Fehler - das ist die Realität.
Das Ertragswertverfahren rechnet mit Mieteinnahmen. Aber hier greift die Mietpreisbremse. Der Gesetzgeber sagt: Du darfst maximal X Euro pro Quadratmeter verlangen. Das bedeutet: Selbst wenn Mieter bereit wären, 18 Euro zu zahlen, dürfen Sie nur 15 Euro nehmen. Das senkt den Ertrag - und damit den Wert. Der Faktor zwischen Netto-Kaltmiete und Immobilienwert, der früher bei 15- bis 23-fachen lag, muss jetzt um bis zu 25 Prozent reduziert werden. In Köln wurde 2023 ein Mehrfamilienhaus mit 1.200 Euro Kaltmiete auf 18.000 Euro pro Quadratmeter bewertet - das wäre normalerweise 21.600 Euro. Der Unterschied? Die Mietpreisbremse.
Das Sachwertverfahren berechnet den Wert der Bausubstanz: Fundament, Wände, Dach, Sanitär. Es ist das einzige Verfahren, das von der Marktlage unbeeinflusst ist. Aber hier liegt das Problem: In angespannten Märkten zahlen Menschen viel mehr als der rechnerische Sachwert. In Hamburg-Niendorf lagen die Verkaufspreise im Durchschnitt 22 Prozent über dem Sachwert. In einem ausgewogenen Markt wäre das nur 5-7 Prozent. Warum? Weil Menschen nicht für Beton und Ziegel zahlen. Sie zahlen für Platz, Lage, Zukunft. Und in einer Stadt mit zu wenig Wohnungen, zahlen sie einfach mehr - egal was die Formel sagt.
Die Preisdynamik ist nicht linear - und das ist das Problem
Klassische Modelle gehen davon aus: Der Preis steigt jedes Jahr gleichmäßig. 5 Prozent, 6 Prozent, 7 Prozent. In der Realität passiert das nicht. In angespannten Märkten beschleunigt sich alles. Zwischen 2015 und 2017 stiegen die Preise in den großen Städten um 4,2 Prozent pro Jahr. Zwischen 2018 und 2020 war es schon 8,7 Prozent. Von 2021 bis 2022: 12,3 Prozent. Das ist keine lineare Kurve - das ist eine exponentielle Welle. Und das macht die Bewertung zur Lotterie.
Ein Gutachter, der 2021 einen Wert von 650.000 Euro für eine Wohnung in München berechnet hat, hat sich auf eine lineare Prognose verlassen. Der Käufer zahlte 820.000 Euro. Heute, nach Zinserhöhungen, ist die Wohnung bei 710.000 Euro. Der Sachwert blieb gleich. Aber der Marktwert schwankt wie ein Aktienkurs. Kein Verfahren kann das vorhersagen. Und das ist kein Fehler der Gutachter - das ist die Natur des Marktes.
Drei Risikopuffer, die wirklich helfen
Was tun, wenn die Regeln nicht mehr passen? Experten haben drei Praxislösungen entwickelt - und sie werden immer häufiger angewendet.
1. Dynamische Korrekturfaktoren - Die Gutachterausschüsse in Nordrhein-Westfalen haben einen einfachen Ansatz entwickelt: Je stärker der Markt angespannt ist, desto höher der Aufschlag. Wenn die Leerstandsquote 1,2 Prozent beträgt, wird ein Risikopuffer von 10 Prozent auf den Grundstückswert aufgeschlagen. Bei 0,9 Prozent sind es 18 Prozent. Das ist kein willkürlicher Wert - das ist eine Rechnung, die auf Daten basiert. Der Faktor wird direkt aus dem Indikatorensystem abgeleitet, das auch die Mietpreisbremse bestimmt.
2. Szenarioanalysen - Ein Gutachter berechnet nicht mehr nur einen Wert. Er berechnet drei: optimistisch, realistisch, pessimistisch. In München: Optimistisch - 850.000 Euro (wenn die Zinsen sinken und die Nachfrage weiter steigt). Realistisch - 730.000 Euro (aktueller Stand). Pessimistisch - 650.000 Euro (wenn die Mietpreisbremse verschärft wird und die Zinsen weiter steigen). Der Käufer oder Verkäufer sieht: Der Wert ist nicht fest. Er liegt in einem Bereich. Und das macht Entscheidungen sicherer.
3. Zeitraumkorrekturen - Jeder Vergleichsverkauf wird nachträglich angepasst. In Berlin wurde 2022 monatlich mit 0,78 Prozent korrigiert. Ein Verkauf aus Mai 2022 wird also um 7,8 Prozent nach oben gerechnet, wenn er im Dezember 2022 bewertet wird. Das ist kein Schätzen - das ist Rechnen. Mit echten Daten aus dem Markt. Und es ist die einzige Methode, die den zeitlichen Abstand zwischen Verkauf und Bewertung berücksichtigt.
Was Experten warnen - und warum Sie vorsichtig sein müssen
Dr. Markus Riecke-Zapp vom Institut für Standardisierung im Immobilienwesen sagt es klar: „Das Dreisäulenmodell hat in extremen Märkten seine Grenzen.“ Warum? Weil es davon ausgeht, dass Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind. In angespannten Märkten ist das nicht der Fall. Die ZEW-Studie von 2023 zeigt: Klassische Verfahren überschätzen den Wert von Wohnimmobilien in diesen Märkten durchschnittlich um 18,7 Prozent. Das ist kein kleiner Fehler - das ist ein Risiko für Käufer, Banken und Versicherungen.
Und es wird noch komplizierter. Die Commerzbank Research prognostiziert: Bis 2025 werden 60 Prozent der heute als angespannt geltenden Märkte diese Klassifizierung verlieren. Warum? Weil neue Wohnungen gebaut werden, oder weil die Nachfrage zurückgeht. Dann sinken die Preise - und zwar schnell. Eine Immobilie, die heute 15 Prozent über ihrem „richtigen“ Wert liegt, könnte in zwei Jahren 15 Prozent darunter liegen. Das ist kein Szenario - das ist eine Wahrscheinlichkeit.
Ein Investor aus Reddit hat es auf den Punkt gebracht: „Ich habe 2021 eine Wohnung in München für 820.000 Euro gekauft. Der Sachwert war 650.000 Euro. Heute ist sie 710.000 Euro wert. Der Sachwert hat sich nicht geändert. Aber der Markt hat sich verändert.“ Genau das ist das Problem. Der Wert ist nicht mehr in den Wänden - er ist in der Stimmung.
Was kommt als Nächstes?
Die deutsche Immobilienbewertung steht vor einer Reform. Der Deutsche Gutachterausschuss hat im Februar 2023 ein neues Methodenpapier veröffentlicht: Machine Learning soll helfen, die Preisdynamik besser zu erfassen. Algorithmen analysieren Tausende von Verkäufen, Mietentwicklungen, Zinsen und Demografiedaten - und berechnen automatisch, wie stark ein Markt angespannt ist. Das ist der nächste Schritt.
Auch das Bundesministerium für Wohnen plant ab 2024 eine Novelle der Immobilienwertermittlungsverordnung (ImmoWertV). Danach müssen alle drei Verfahren explizit die Marktspannung berücksichtigen. Das ist ein großer Schritt. Aber Prof. Dr. Andreas Pfnür von der TU München warnt: „Die Risikopuffer sind noch nicht kalibriert. Wir brauchen Finanzmarktindikatoren - Zinsen, Kapitalflüsse, Kreditvergabe - in den Modellen.“
Und dann ist da noch die Baureform ab 2025: Werden die Schwellenwerte überschritten, gilt ein Markt automatisch als angespannt - ohne politische Entscheidung. Bis 2027 könnte sich die Zahl der betroffenen Gebiete verdoppeln. Das bedeutet: In vielen Städten, die heute noch ruhig wirken, könnte sich die Lage schnell ändern.
Was Sie als Eigentümer oder Käufer tun können
Wenn Sie eine Immobilie verkaufen oder kaufen, lassen Sie sich nicht nur einen Wert nennen. Fragen Sie: Welches Verfahren wurde angewendet? Welche Daten wurden genutzt? Wurde eine Zeitraumskorrektur durchgeführt? Gibt es Szenarien? Ist der Risikopuffer berechnet - und auf welcher Grundlage?
Ein Gutachter, der nur einen Wert nennt, ohne zu erklären, warum, ist kein Experte - er ist ein Rechner. Ein echter Gutachter in einem angespannten Markt zeigt Ihnen drei Szenarien. Er sagt: „Hier ist der aktuelle Wert. Hier ist, was passieren könnte, wenn die Zinsen steigen. Und hier, was passiert, wenn neue Wohnungen gebaut werden.“
Und vergessen Sie nicht: Der Wert einer Immobilie ist nicht mehr nur eine Zahl. Er ist eine Prognose. Eine Prognose über Zinsen, Gesetze, Bevölkerung und Wirtschaft. Und das macht die Bewertung heute zu einer der komplexesten Aufgaben im Finanzbereich - und zu einer der wichtigsten.