Stellen Sie sich vor, Sie wollen eine Wohnung verkaufen. Anstatt Wochen auf einen Gutachter zu warten, erhalten Sie in vier Minuten einen schriftlichen Wertvorschlag - mit Zahlen, die auf Hunderttausenden tatsächlichen Verkäufen basieren. Klingt wie Science-Fiction? Ist es aber nicht. Das ist der Alltag von AVMs - automatisierten Bewertungssystemen, die Immobilienwerte mit Künstlicher Intelligenz berechnen. In Deutschland werden sie längst nicht mehr nur von großen Banken genutzt, sondern auch von Maklern, Anlegern und sogar Privatleuten. Aber funktionieren sie wirklich? Und wann sollten Sie sie lieber ignorieren?
Wie funktioniert ein AVM wirklich?
Ein AVM ist kein Zaubertrick. Es ist ein Computerprogramm, das wie ein sehr schneller, sehr genauer Immobilienexperte arbeitet - nur ohne Emotionen, ohne Müdigkeit und ohne Provision. Es sammelt Daten aus über 20 Quellen: Kaufpreise aus Immobilienportalen wie Immowelt oder ImmobilienScout24, amtliche Grundbuchdaten, Mietpreise, soziodemografische Informationen wie Einkommen in der Nachbarschaft, Entfernung zu Schulen, U-Bahnhöfen, und sogar die Anzahl der Parkplätze vor dem Haus. Alles das wird in Algorithmen eingespeist, die lernen, welche Faktoren den Wert beeinflussen.
Die meisten modernen Systeme nutzen sogenannte Gradient Boosting- oder Random Forest-Algorithmen. Das klingt technisch, ist aber einfach erklärt: Der Computer vergleicht Ihre Immobilie mit Tausenden ähnlicher Objekte - und schaut, wie viel diese verkauft haben. Wenn Ihre Wohnung 85 m² groß ist, aus dem Jahr 1972 stammt, in Hamburg-Eimsbüttel liegt und vor drei Jahren saniert wurde, sucht das System nach 100 ähnlichen Wohnungen in der Nähe. Dann berechnet es: Was ist der Durchschnittspreis? Wie stark beeinflusst die Nähe zur U-Bahn? Wie viel kostet eine Sanierung aus dem Jahr 2020? Die Antwort kommt in Sekunden.
Die besten Systeme geben nicht nur einen einzelnen Wert aus, sondern ein Konfidenzintervall. Das bedeutet: „Die Wohnung ist wahrscheinlich zwischen 650.000 € und 720.000 € wert.“ Das ist wichtig. Denn kein Algorithmus kann die Zukunft vorhersagen - er kann nur Muster aus der Vergangenheit erkennen.
Welche AVMs gibt es in Deutschland?
Nicht alle AVMs sind gleich. In Deutschland dominieren drei Anbieter mit zusammen 78 % Marktanteil: Sprengnetter, VALUE AG und PriceHubble. Jeder hat seine Stärken - und seine Schwächen.
- Sprengnetter AVM ist der Marktführer mit 35 % Anteil. Es arbeitet mit täglich aktualisierten Daten - ein großer Vorteil in schnellen Märkten wie Frankfurt oder München, wo Preise sich monatlich um bis zu 1,2 % verschieben. Es ist auf Wohnimmobilien spezialisiert und erreicht in Großstädten einen mittleren Fehler von nur 2,8 %. Preis: ab 10 € pro Objekt, wenn Sie mehr als 500 Bewertungen pro Jahr brauchen.
- VALUE AVM ist der einzige Anbieter, der explizit die europäischen Bankenaufsichtsrichtlinien (EBA) erfüllt. Es bietet auch Gewerbeimmobilien an - was für Anleger mit Mietshäusern oder Gewerbeobjekten wichtig ist. Der Fehler liegt bei 3,2 %, etwas höher als bei Sprengnetter, aber es bietet eine einfache Excel-Integration, die viele Unternehmen schätzen. Preis: 15 € pro Objekt.
- PriceHubble ist der Schweizer Anbieter mit der größten europäischen Abdeckung - 27 Länder. Aber im deutschen Markt ist es mit 3,8 % Fehler etwas ungenauer. Es ist beliebt bei Maklern, die international arbeiten, aber weniger bei deutschen Banken.
Was alle gemeinsam haben: Sie brauchen keine spezielle Software. Sie loggen sich einfach über den Browser ein, geben die Adresse ein - und bekommen das Ergebnis. Keine Installation, kein Update, keine Hardware.
Wann funktionieren AVMs perfekt - und wann nicht?
AVMs sind wie ein Taschenrechner: Sie sind fantastisch, wenn die Aufgabe klar ist. Aber sie scheitern, wenn die Frage zu kompliziert wird.
Perfekt für:
- Standardwohnungen in Städten mit vielen Verkäufen (Berlin, Hamburg, München, Köln)
- Portfoliobewertungen von 100+ Wohnungen
- Schnelle Vorfilterung vor einer manuellen Begutachtung
- Investoren, die schnell mehrere Objekte vergleichen wollen
Schlecht für:
- Denkmalimmobilien - die Datenbanken kennen keine vergleichbaren Verkäufe
- Neubau-Projekte ohne vergleichbare Objekte in der Umgebung
- Häuser mit massivem Sanierungsbedarf (mehr als 30 % Reparaturen nötig)
- Ländliche Gegenden mit weniger als fünf Verkäufen pro Jahr
- Gewerbeimmobilien mit individuellen Mietverträgen oder Sonderausstattungen
Ein echter Praxisfall: Ein Makler in Frankfurt nutzte Sprengnetter AVM, um eine Villa mit Pool zu bewerten. Das System schätzte 1,2 Millionen €. Der tatsächliche Verkaufspreis lag bei 1,46 Millionen € - ein Fehler von 22 %. Warum? Der Pool war neu, mit Heizung, LED-Beleuchtung und einer speziellen Filteranlage - Daten, die das System nicht erkannte. Ein Gutachter, der vor Ort war, sah das sofort.
Die Kritik: Sind AVMs zu blind?
Die größte Kritik an AVMs ist ihre „Black Box“. Die meisten Anbieter sagen nicht, welche Faktoren wie stark gewichtet werden. Sie geben nur das Ergebnis aus - nicht den Weg dorthin. Nur zwei von acht getesteten Systemen veröffentlichen ihre Feature-Weights. Das ist problematisch, wenn Sie wissen wollen, warum Ihr Haus weniger wert ist als gedacht.
Prof. Dr. Markus Kirchner von der TU München hat 12.000 AVM-Bewertungen analysiert und festgestellt: Wer allein auf AVMs setzt, macht bei 18,7 % der Transaktionen falsche Entscheidungen. Das bedeutet: Ein Investor kauft ein Haus, das eigentlich überbewertet ist - oder verkauft eines zu billig, weil das System die Lage unterschätzt hat.
Aber es gibt auch eine positive Seite: AVMs eliminieren menschliche Biases. Eine Studie der Universität Zürich zeigte, dass Maklerexposés, die von Menschen geschrieben wurden, oft unbewusst Werte nach oben verzerren - etwa weil der Kunde sympathisch ist oder weil das Haus „besonders charmant“ wirkt. AVMs sind neutral. Sie sagen: „Diese Wohnung ist 5 % teurer als der Durchschnitt.“ Punkt.
Wie nutzen Profis AVMs richtig?
Die erfolgreichsten Nutzer nutzen AVMs nicht als Ersatz - sondern als Verstärker.
Thomas Meier, CIO von Allianz Real Estate, sagt es klar: „Wir nutzen AVMs nur als Filter. Abweichungen über 5 % werden von Sachverständigen geprüft.“ Das ist der goldene Standard. Ein AVM liefert Ihnen eine erste Einschätzung - dann prüfen Sie, ob sie plausibel ist. Wenn die Schätzung um mehr als 5 % von Ihrem eigenen Gefühl abweicht, holen Sie einen Gutachter.
Deutsche Wohnen nutzte VALUE AVM 2023, um 12.000 Wohnungen in Berlin zu bewerten. Ohne AVM hätte das sechs Monate gedauert. Mit AVM: zwei Wochen. Die Ergebnisse wurden dann von drei Sachverständigen überprüft - nur bei 1,2 % der Objekte war die AVM-Schätzung zu stark abweichend. Das ist eine enorme Effizienzsteigerung.
Ein weiterer Erfolgsfaktor: Datenbereinigung. Wer seine eigenen Daten aus alten Excel-Tabellen oder PDFs importiert, verbringt bis zu 40 % der Zeit damit, Fehler zu bereinigen - doppelte Adressen, falsche Quadratmeterzahlen, veraltete Sanierungsdaten. Wer das nicht macht, bekommt ein schlechtes Ergebnis - nicht weil das AVM schlecht ist, sondern weil die Eingabedaten schlecht sind.
Was ändert sich 2025?
Die Technik entwickelt sich rasant. Sprengnetter hat im April 2025 eine neue Funktion eingeführt: Fotoanalyse. Sie können ein Bild Ihrer Wohnung hochladen - und das System erkennt mit 89 % Genauigkeit, ob die Küche modernisiert ist, ob die Böden erneuert wurden oder ob es noch alte Fenster gibt. Das ist ein großer Schritt. Bislang konnten AVMs nur Daten nutzen - jetzt fangen sie an, „zu sehen“.
Die EU plant bis 2026 verbindliche Standards für AVMs in der Kreditvergabe. Das bedeutet: Banken müssen künftig nachweisen, dass ihr AVM-System valide ist. Das wird den Markt bereinigen - schlechte Anbieter verschwinden.
Und es gibt neue Daten: Das neue Open-Data-Portal des Bundesministeriums des Innern (BMI), das seit November 2024 läuft, stellt 1,2 Millionen Transaktionsdaten pro Quartal bereit. Das ist die größte Datenbank ihrer Art in Deutschland. Je mehr Daten, desto genauer die Modelle.
Ein Risiko bleibt: In neuen Stadtteilen wie Berlin-Heinersdorf fehlen noch 74 % der Referenzobjekte. Hier können AVMs nicht arbeiten - weil es einfach keine Vergleichsdaten gibt. Auch das wird sich mit der Zeit ändern - aber nicht morgen.
Was sollten Sie tun?
Wenn Sie eine Wohnung verkaufen: Nutzen Sie ein AVM - aber nicht als letzte Wahrheit. Geben Sie es einem Makler oder einem Gutachter - und fragen Sie: „Ist das plausibel?“ Wenn es passt, ist es ein starkes Argument. Wenn nicht, holen Sie eine manuelle Bewertung.
Wenn Sie investieren: Nutzen Sie AVMs, um schnell 20 Objekte zu filtern. Dann besichtigen Sie nur die fünf, die realistisch erscheinen. Sie sparen Zeit, Geld und Nerven.
Wenn Sie eine Hypothek beantragen: Banken nutzen AVMs schon jetzt für Vorprüfungen. Aber: Die EBA sagt klar - für Kredite über 250.000 € braucht es immer eine manuelle Prüfung. Ein AVM allein reicht nicht.
AVMs sind kein Ersatz für Expertise. Sie sind ein Werkzeug - wie ein GPS. Es sagt Ihnen, wo es langgeht. Aber am Ende müssen Sie selbst entscheiden, ob Sie diesen Weg nehmen wollen.
Können AVMs den Immobilien-Gutachter ersetzen?
Nein. AVMs sind ein Werkzeug - kein Ersatz. Sie funktionieren gut bei Standardimmobilien in städtischen Gebieten mit vielen Verkäufen. Aber bei Denkmalimmobilien, Gewerbeobjekten, Häusern mit starkem Sanierungsbedarf oder in ländlichen Regionen sind sie unzuverlässig. Ein menschlicher Gutachter erkennt Details, die kein Algorithmus sieht: die Qualität der Sanierung, die Stimmung der Nachbarschaft, die Lage einer Terrasse, die Versteckung von Schäden. Für Verkaufsentscheidungen, Kredite über 250.000 € oder komplizierte Objekte brauchen Sie immer einen Sachverständigen.
Wie genau sind AVMs wirklich?
In Großstädten wie Berlin oder München erreichen die besten Systeme einen mittleren Fehler von 2,5 % bis 3,2 %. Das bedeutet: Bei einer Wohnung, die 700.000 € wert ist, liegt die Schätzung meist zwischen 680.000 € und 720.000 €. In ländlichen Gebieten oder bei Sonderimmobilien steigt der Fehler auf bis zu 8,7 %. Die Genauigkeit hängt stark von der Datenmenge ab - je mehr vergleichbare Verkäufe in der Nähe, desto besser. Kein AVM ist perfekt - aber viele sind genau genug für eine erste Einschätzung.
Warum unterscheiden sich AVM-Werte von Makler-Schätzungen?
Makler bewerten oft nach „Verkaufspsychologie“. Sie setzen den Wert etwas höher, um den Verkäufer zufriedenzustellen oder um ein Exposé attraktiver zu machen. AVMs arbeiten neutral - sie berechnen den Wert anhand tatsächlicher Verkäufe. Wenn ein Makler sagt, Ihre Wohnung sei 10 % wertvoller als das AVM, fragen Sie: „Auf welchen Verkäufen basiert das?“ Oft ist der Makler zu optimistisch - manchmal aber auch der Algorithmus zu kalt.
Wie teuer ist ein AVM?
Für Einzelnutzer liegen die Preise zwischen 10 € und 15 € pro Objekt. Große Anbieter wie Sprengnetter oder VALUE AG bieten Pakete ab 500 Bewertungen pro Jahr an - dann sinkt der Preis pro Objekt. Für Immobilienfonds oder Banken gibt es Jahreslizenzen ab 15.000 €, die auch Support und API-Zugang beinhalten. Im Vergleich zu einem manuellen Gutachten (300-800 € pro Objekt) ist das extrem günstig - besonders wenn Sie mehr als 20 Objekte bewerten müssen.
Welche AVMs sind für Privatleute geeignet?
Für Privatleute sind Sprengnetter und PriceHubble am einfachsten zu nutzen - beide bieten Online-Portale mit einfacher Eingabe. Sie können dort Ihre Adresse eingeben, ohne sich anzumelden. Die Ergebnisse sind kostenlos oder gegen geringe Gebühr verfügbar. VALUE AG ist eher für Unternehmen ausgelegt. Wenn Sie nur einmalig wissen wollen, wie viel Ihre Wohnung wert ist, ist ein AVM eine schnelle, günstige Option - aber nicht die letzte Antwort.